Leseprobe 2. "Bittere Erkenntnis"
Bei Tisch treffe ich auf den Oberlehrer. Er fragt mich auch nach meinem Befinden und stirnerunzelnd nach den Problemen mit den Beinen. " Hoffentlich bekommst du das mit dem Laufen wieder hin, sieht ja nicht gut aus. Aber lass dich durch mich nicht entmutigen. Du packst das schon!" Ich habe den Oberlehrer auch in der 3A kennen gelernt. Er ist so wie ich, alkoholabhängig und zur Behandlung hier. Mir hat er sehr geholfen, den Entgiftungsprozess leichter zu verstehen und zu ertragen. Vor allem die medizinischen Zusammenhänge der Suchtkrankheit konnte er prima und anschaulich erklären. Das gefiel mir sehr.
Lächelnd lässt er mich allein und geht ein paar Tische weiter zu seinen Leuten. Die Bemerkungen über meine Beine machen mir ja nun wirklich nicht viel Mut. Nachmittags und abends passiert nicht viel. Ich habe mit dem Auspacken und Einrichten im Zimmer genügend zu tun.
An Helga, meine Frau, will ich auch noch schreiben. Abends liege ich dann noch lange wach, kann nicht einschlafen. Zu sehr quälen mich noch die Erlebnisse der letzten Tage im Krankenzimmer unten in der Aufnahme. Immer noch verfolgen mich die Mächte der Dunkelheit, die alkoholischen Halluzinationen. Schauer laufen über meinen Rücken. Warum hatte ich so etwas und andere nicht? Gehört das zur Krankheit? Auch macht mir dieser plötzliche Wechsel von der 3A nach hier oben zu schaffen. Ich muss diese Situation erst mal verdauen.
Ich habe mich verändert, spüre es! Es umhüllt mich wie ein neuer Mantel, umschließt mich wie eine neue Haut, erfüllt mich mit Freude und Angst. Zwingt mich zur Zuversicht und Verantwortung. Ich kenne diese Gefühle nicht oder habe ich sie nur vergessen?

Donnerstag 18. Juni
Hat da jemand sein Radio so laut am frühen Morgen an oder woher kommt diese Stimme?
"Es ist jetzt sechs Uhr und eine Minute sechs und vierzig Sekunden. Liebe Patientinnen und Patienten, ihr habt noch genau acht Minuten und vierzehn Sekunden Zeit, euch zum morgendlichen fröhlichen Frühsport am Hauptportal zum Park einzufinden!"
Ich habe die Lautsprecheranlage dort über der Tür gar nicht beachtet. Nicht übel, diese Art des Weckens. Ein Glück, dass ich eine Sportbefreiung habe. Die Nacht war gut, ich habe trotz der immer noch starken Fußbeschwerden fast durchgeschlafen. Ist das ein gutes Zeichen?
Ich lasse mir Zeit bei der Morgentoilette. Um sieben Uhr ist Frühstück. Ich brauche nicht nach dem Weg zu fragen, gehe einfach den anderen Hungrigen hinterher. Es ist ein großer Saal für etwa sechzig bis achtzig Personen. Ist schon etwas anderes, als dieser Mehrzweckraum unten in der Aufnahmestation. Bernd und der Oberlehrer haben einen Platz für mich reserviert.

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